Road 96: Prozedural generiertes Roadtrip-Adventure im Test (2024)

Erinnert ihr euch noch an diese "Choose your own Adventure"-Bücher aus den 80er- und 90er-Jahren? Stellt euch das Ganze in Videospielform vor und ihr habt in etwa das Konzept von Road 96: Ihr erlebt eine persönliche Geschichte, deren Ausgang allein ihr mit euren Entscheidungen bestimmt! Statt auf die Insel der 1000 Gefahren oder gar den Mond geht's in dem Indie-Adventure allerdings ins fiktive Land Petria, das von politischen Spannungen durchzogen ist.

Nach einem Terroristenangriff hat sich Präsident Tyrak quasi zum gewählten Diktator aufgeschwungen und kontrolliert das Volk mit eiserner Hand. Die Grenze ziert nun eine riesige Betonmauer, Bürger schuften in Zwangsarbeitslagern, alle Medien wurden gleichgeschaltet und verbreiten nur noch allerfeinste Propaganda. Kurzum: kein schöner Ort.

Country Roads

Deshalb habt ihr euch auch in den Kopf gesetzt, Petria schnellstmöglich den Rücken zu kehren. Dafür begebt ihr euch mit eurem namenlosen Teenager-Protagonisten auf einen abenteuerlichen Roadtrip, an dessen Ende (zumindest im Idealfall) eine erfolgreiche Flucht steht. Einfach wird das aber nicht, euer Weg in die Freiheit ist nämlich prozedural generiert. Das heißt, euch begegnen immer wieder zufällig ausgewählte Hindernisse wie Polizisten, Widerstandskämpfer oder verrückte Taxifahrer mit Geiseln im Kofferraum. Am häufigsten wird es euch aber wohl an Geld und Energie mangeln. Das sind die zwei zentralen Ressourcen im Spiel, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Mit euren hart ersparten Dollars leistet ihr euch Bustickets, Essen und Trinken oder auch einfach mal einen Anruf bei Mutti, damit die sich keine Sorgen macht. Energie verbraucht ihr dagegen mit jedem zurückgelegten Abschnitt eurer Reise. Mal mehr, mal weniger - je nachdem, wie ihr das Land durchquert. Wenn ihr zu Fuß durch die Wüste wandert, ist das natürlich anstrengender, als die Strecke trampend im Beiwagen eines Motorrads zurückzulegen. Geht euch die Energie aus, ist euer Trip vorbei. Genauso gut kann es aber auch sein, dass ihr unterwegs geschnappt oder sogar umgebracht werdet.

Quelle: PC GamesAlles, was ihr tut, hat Auswirkungen auf den Ausgang der Story. Verschandelt ihr ein Wahlplakat, kann das das Volk weiter radikalisieren und zur Revolution führen.Ein endgültiges Game Over ist das aber nicht. Ihr startet einfach mit einem neu erstellten Charakter, versucht euer Glück auf einer anderen zufälligen Route und erfahrt dabei immer mehr über Petria und seine Bewohner. So stehen demnächst etwa Wahlen an, die über die weitere Zukunft des Landes entscheiden und deren Ergebnis ihr aktiv mitgestalten könnt! Jede eurer Aktionen hat Auswirkungen auf die Spielwelt. Ob ihr nun ein Plakat von Präsident Tyrak verschandelt oder euch im Gespräch für seine Gegenkandidatin Florres aussprecht: Alles beeinflusst den Ausgang der Geschichte - was euch auch stets mit einem wenig subtilen Hinweis am oberen rechten Bildschirmrand klargemacht wird. Das macht die Erzählung von Road 96 (jetzt kaufen ) unglaublich spannend und interaktiv, zumal es die Entwickler geschafft haben, das politisch aufgeladene Setting sehr gut umzusetzen. Das Adventure ist zuweilen echt ernst und macht selbst vor düsteren Szenerien keinen Halt. Da werden auch mal Menschen in einer Badewanne voll Säure aufgelöst oder wehrlose Jugendliche von der Grenzpatrouille erschossen. Das ist harter Tobak.

Freiheit und Wahrheit

Auf der anderen Seite kann die Reise durch Petria aber auch wunderschön sein. Das liegt vor allen Dingen an den vielen liebenswürdigen Charakteren, die ihr dort trefft. Mit jeder neuen Spielfigur, auf jedem neuen Roadtrip lernt ihr diese besser kennen und versteht so die Zusammenhänge der Geschichte: Was versteckt Trucker John in seinem Anhänger vor der Polizei? Wer hat es auf die Nachrichtensprecherin Sonya abgesehen, und warum? Das erschließt sich erst Stück für Stück. Den kompletten Durchblick werdet ihr allerdings nicht direkt beim ersten Playthrough bekommen. Der Aufbau von Road 96 ist ja schließlich immer noch zufallsbasiert. Manche Situationen, Settings und Figuren bekommt ihr also erst beim zweiten Versuch zu sehen.

Diese Jagd nach fehlenden Puzzlestücken bringt nicht nur Abwechslung ins Geschehen, sie hält auch die Motivation hoch und sorgt für ordentlich Wiederspielwert. Im New Game Plus könnt ihr die letzten offenen Enden der Geschichte zusammenknüpfen und dabei sogar auf eure vorher eingesammelten Vorteile setzen. Manche NPCs haben euch nämlich nicht nur spannende Dinge zu erzählen, sie geben euch auch hilfreiche Dinge mit auf den Weg. Computer-Genie Alex vermacht euch etwa ein Hacking-Tool, vom Diebes-Duo Stan und Mitch bekommt ihr einen Dietrich, den ihr dann künftig auch mit jedem neuen Spielercharakter nutzen könnt. Das sorgt zwar für ein paar kleine Logikprobleme: Wie hat mein Protagonist plötzlich ein Item dabei, das sein Vorgänger doch mit über die Grenze genommen hat? Insgesamt verleihen die Werkzeuge und Fähigkeiten dem Titel aber nochmal etwas nötige Tiefe.
Quelle: PC GamesDas Gameplay in Road 96 ist eher seicht. Der Fokus liegt ganz klar auf den zahlreichen Dialogen, die immer wieder mal von Minispielen unterbrochen werden.

Mehr Walking Simulator als Adventure

Ansonsten ist das Gameplay nämlich eher dünn. Spielerisch lässt sich Road 96 wohl am besten mit der ersten Staffel von Telltale's The Walking Dead vergleichen: Ihr könnt zwar durch die verschiedenen Szenerien laufen und mit den Menschen und Objekten in der Umgebung interagieren. Der Fokus liegt aber ganz klar auf den ausführlichen Dialogen, in denen ihr verschiedene Antwortoptionen zur Auswahl habt. Nur vereinzelt streuen die Macher mal ein paar Minigames zur Auflockerung ein. Ihr dürft beispielsweise eine Runde Airhockey spielen oder euch im Guitar-Hero-Stil an einer Posaune versuchen. Das ist aber höchstens ein nettes Gimmick und nicht wirklich der Rede wert.

Quelle: PC GamesDie Dialoge in Road 96 sind nur komplett auf Englisch vertont. Die deutschen Untertitel sind leider aber nicht immer ganz sattelfest.Auch über die Grafik lässt sich streiten. Road 96 ist eher minimalistisch gehalten, das Geschehen läuft in einem an sich stimmigen Comic-Look ab. Es treten aber immer wieder ärgerliche Probleme auf: Die Framerate sackt ab, Charaktere glitchen durch die Gegend, Animationen wirken unrund und Texturen matschig. Da wäre schon ein wenig mehr drin gewesen. Dazu kommen teils inkorrekte Untertitel, was gerade angesichts der exklusiv auf Englisch verfügbaren Vertonung etwas unglücklich ist, und eine recht unpräzise Steuerung, bei der eure Figur noch zwei Schritte weiterläuft, obwohl ihr den Analogstick längst losgelassen habt. Diese kleinen Makel ziehen den Gesamteindruck dann doch etwas herunter.

Dem gegenüber stehen aber das gelungene Setting, das einzigartige Spielkonzept und die atmosphärische Inszenierung. Besonders der Soundtrack ist wirklich herausragend. Deshalb würde ich Road 96 auf jeden Fall immer noch weiterempfehlen. Der außergewöhnliche Roadtrip, aller Kritik zum Trotz, ein ganz besonderes Spielerlebnis und definitiv eines der Indie-Highlights dieses Spielesommers, das ihr nicht verpassen solltet. Greift also gerne auf dem PC oder der Switch zu, da ist der Titel bereits seit dem 16. August für knapp 20 Euro verfügbar.

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